Kerntechnik und Antiatomkraftbewegung

Bis in die 80er Jahre galt die Kerntechnik politisch als Losung des Energieproblems schlecht – hin, die 1955 mit Franz Josef Strauss gestartet wurde. Damit stieg Deutschland im Kreis der Industrielander zur Atommacht auf. Auch wenn dies keine militarische Bedeutung hatte, gehorte die Bundesrepublik Deutschland damit zweifelsfrei zum Kreis der damals fuhrenden Industrienationen. Es war die Wirtschaftswunderzeit, in der sich das Sozialprodukt proportio­nal mit der verfugbaren Energiemenge vermehrte [1]. Die folgende erste sogenannte Olkrise (versuchte Durchsetzung hoherer Olpreise durch die OPEC) mit autofreien Sonntagen zur Streckung der innerdeutschen Olreserven in Tanklagern von wenigen Monaten zeigte deut – lich, dass ein okologisch bedingter Umstieg von Kohle auf Ol und Gas zur Reduzierung der Umweltbelastung in der Kraftwerkstechnik die deutsche Wirtschaft extrem importabhangig und erpressbar gemacht hatte. Deshalb setzte die sozial-liberale Koalition unter Helmut Schmidt ebenso wie die folgende schwarz-gelbe Regierung unter Kohl den Ausbau der Kern-

J. Unger, A. Hurtado, Energie, Okologie und Unvernunft,

DOI 10.1007/978-3-658-01503-9_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

energie fort, um den mit der wachsenden Wirtschaftskraft Deutschlands auch steigenden Energiebedarf sichern zu konnen. Die in Deutschland gebauten Reaktoren (DWR und SWR) sind Abkommlinge amerikanischer Reaktoren von Westinghouse und General Electric.

Gegen die Kerntechnik regte sich lokal Mitte der 70er Jahre der erste Widerstand. Nach der Ankundigung des Projekts Wyhl am Kaiserstuhl unmittelbar in der Nahe von Freiburg im Breisgau begannen Burger aus Wyhl gegen den Plan zu protestieren. Die vorgebrachten Ar – gumente waren nicht spezifisch kerntechnisch und hatten auch fur ein fossiles Kraftwerk vorgebracht werden konnen. Im Wesentlichen wurden von den Weinbauern finanzielle Ein – buben befurchtet (lokale Reduzierung der Sonneneinstrahlung und vermehrte Nebeltage durch den aus den Kuhlturmen austretenden Wasserdampf mit Wolkenbildung). Gewichtig war bei diesem friedlichen Protest auch die Befurchtung der Weinbauern und der ansassigen Burger bis ins benachbarte Freiburg, dass das Rheintal zusammen mit dem Kernkraftwerk zu einer industriellen Zone ausgebaut werden sollte. Mit dem Protest dieser Burger gegen eine politisch geplante Naturzerstorung, die aus der Sicht des Naturschutzers voll zu verstehen ist, wurde die Wurzel fur die Antiatomkraftbewegung gelegt.

Im Fortgang der Demonstrationen sind immer wieder Uberschneidungen der Antiatomkraft – bewegung mit der Umweltbewegung zur Bewahrung der Natur festzustellen. Auf der Welle des Erfolgs schlossen sich auch radikalere politische Gruppen der Bewegung an, die von Frauengruppen erganzt wurden, die in ihrer Mutterrolle besonders sensitiv gegenuber den genetischen Gefahren radioaktiver Strahlung agierten.

Nachdem der damalige niedersachsische Ministerprasident Ernst Albrecht sich in einem will – kurlichen Akt politisch fur den Salzstock in Gorleben als Endlager fur abgebrannte Brenn- elemente ausgesprochen hatte und sich hierbei wissentlich uber die vorliegenden Erkun – dungsergebnisse der nach dem Atomgesetz allein zustandigen Bundesanstalt fur Geowissen – schaften und Rohstoffe hinweggesetzt hatte, eskalierten die Demonstrationen gegen die Kernkraft im dunnbesiedelten damaligen Zonenrandgebiet durch aus ganz Deutschland anrei – sende Demonstranten. Solche politisch willkurlichen Entscheidungen sind einfach unklug und bewirken bei Burgerbewegungen besonderen Unmut, insbesondere wenn diese noch mit Naturzerstorungen verknupft sind. Die total ubertriebene Einzaunung des Erkundungsgelan- des, gegenuber der die innerdeutsche Grenze geradezu als durchgangig wirkte, konnte die Emporung nur noch steigern. Derartige allein wie auch immer politisch motivierte Entschei – dungen, die den Burgern nicht vermittelt werden und wegen der Willkur der Entscheidung auch gar nicht zu vermitteln sind, wirken wie Dekrete aus der Zeit der Monarchie. Die zu erwartenden Reaktionen sind etwa die wie aktuell im Fall Stuttgart 21, insbesondere wenn der eingesetzte Polizeiapparat auf Anweisung der Politik die Demonstration mit Brutalitat verhindern will.

Weitere GroMemonstrationen gegen die Kernenergie sind in Bild 2.1 aufgelistet, die von den Akteuren immer besser organisiert wurden. Mit Hilfe des mittlerweile verfugbaren Internets und mit Mobiltelefonen gelang erstmalig ein Optimieren des Demonstrationskollektivs (Schwarmverhalten). Leider wurden die ursprunglich gewaltfreien Demonstrationen, deren Erfolg allein durch die staats – und okonomisch unabhangige Gesellschaftsmacht der sich bei den Demonstrationen findenden Kollektive errungen wurde, zunehmend gewalttatig. Wie etwa auch im Fall der Startbahn West (Flughafen Rhein-Main) eskalierten die Auseinander- setzungen mit dem Polizeiapparat fast bis hin zu burgerkriegsahnlichen Zustanden. Emotio­nal getrieben wurden diese Demonstrationen durch immer neue Bedrohungen und Storfalle.

Diese die Bevolkerung besonders emotional stimulierenden Ereignisse nuklearer und auch nicht-nuklearer Art im Zeitintervall zwischen dem Bau des ersten Reaktors VAK in Kahl am Main (1961) und dem zuletzt gebauten Reaktor GKN 2 in Neckarwestheim bei Stuttgart (1989) sind in Bild 2.1 dargestellt, um die in dieser Zeit auf die Gesellschaft einwirkenden Einflusse und deren Ruckwirkungen auf den industriellen Prozess beschreiben zu konnen. Damit wird klar, dass nicht nur die Angst vor der friedlichen Nutzung der Kerntechnik, son – dern auch andere bedrohlich empfundene Ereignisse von sowohl technologischer als auch gesellschaftlicher Art Ursache fur die Teilnahme von Menschen an den Demonstrationskol – lektiven von Whyl bis Wackersdorf ausschlaggebend waren. In dieser Zeit waren der Viet – namkrieg und auch die Atomtests noch nicht beendet, die weitgehend Ausloser fur Protest – demonstrationen und das Entstehen der Antikriegs – oder Friedensbewegung waren. Auber – dem eskalierte der durch die atomare Bewaffnung gepragte Ost-West-Konflikt nochmals mit der Raketenaufrustung auf deutschem Boden (SS 20 im Osten und Pershing II im Westen) im Rahmen des Nato-Doppel-Beschlusses. Und es wurde die Neutronenbombe entwickelt, die insbesondere nach den Vorstellungen der Amerikaner auf deutschem Boden zum Einsatz kommen sollte. Die in dieser Zeit geradezu fuhlbare atomare Bedrohung, die nur durch das „Gleichgewicht des Schreckens“ (Overkillsituation auf beiden Seiten) uberlebt werden konn – te, wurde nochmals mit der Neutronenbombe (Miniwasserstoffbombe mit minimierter Sprengkraft und maximierter kurzlebiger Neutronenstrahlung) verscharft, mit der die Ameri – kaner glaubten, trotz der Pattsituation im Grobwaffenbereich (interkontinental einsetzbare Atom – und Wasserstoffbomben) zum atomaren Sieg auberhalb ihres Territoriums gelangen zu konnen.

All diese ungeheuerlichen Bedrohungen durch atomare Waffen und die emotionale Gleich- setzung der von den Kernwaffen ausgehenden Strahlungsgefahr mit der von Kernreaktoren zur Stromerzeugung haben die Menschen extrem verunsichert und in Unruhe versetzt, die zudem auch noch durch andere Extremereignisse in der Pharmazie (Contergan), der Chemie (Seveso, Union Carbide, Sandoz) bis hin zu den ersten Groboltankerunfallen (Amoco Cadiz, Exxon Valdez) und den Olkrisen in den Jahren 1973 und 1979 (Bild 2.2) verstarkt wurden. Aber auch die Existenz der RAF (Rote Armee Fraktion) hatte Einfluss auf das Demonstrati – onsverhalten. Durch die von der RAF vorgefuhrte Verhohnung und der Infragestellung des verfassungskonformen Gewaltmonopols (Legitimitat der Gewalt des Staates) wurden Teile der Demonstrationskollektive immer gewaltbereiter.

Andererseits starben in der Zeit von 1961 bis 1989 bei Verkehrsunfallen und todlichen Unfal­len in den Haushalten in Deutschland 600.000 Menschen. Weltweit gab es 15.000 Tote bei Flugzeugunfallen, 500.000 bei Erdbeben und 250.000 beim Bruch von Staudammen, die weltweit zur Nutzung der Wasserkraft errichtet wurden.

Geradezu im Verborgenen der aktuellen und medial beeinflussten Wahrnehmung eskalierte die Umweltzerstorung, wurde die Nutzung der Landwirtschaft immer industrieller. Durch Einschrankung auf immer weniger Pflanzen – und Tierarten (Monokulturen) musste der Ein – satz von Schadlingsbekampfungsmitteln und Antibiotika immer mehr intensiviert werden. Ahnlich wie im Krankenhaus die Bekampfung resistenter Viren immer problematischer wird, werden durch die fortschreitende Industrialisierung in der Landwirtschaft Resistenzprobleme geschaffen, die uber die Nahrungskette auf die Menschen einwirken und langfristig deren Uberleben uberhaupt in Frage stellen.

Politisches Handeln wird ebenso wie das Demonstrationsverhalten heute wesentlich durch die Medien bestimmt. Da die Menschen emotional empfinden und sich entsprechend dieser Augenblicksempfindungen verhalten, liegt auch deren aktuelle Lenkung mit emotionalen Werkzeugen nahe. Dies ist eine Schwachstelle der Demokratie, da Politiker aus Machterhalt und Verlustangst sich immer populistischer verhalten. Die „Einschaltquoten“ der Medien werden ausschlieftlich Gradmesser ihres Handelns. Eine gesamtheitliche Schau und Bewer – tung der Dinge geht verloren, jegliche mit Vernunft gepaarte Erkenntnis bleibt auf der Stre – cke. Dinge, die unser Leben zukunftig gravierend beeinflussen, bleiben unbeachtet. Neue Gefahren tauchen geradezu ohne Vorwarnung auf. Die Politik gibt nicht mehr die Richtlinien vor, sondern lauft nur noch reagierend hinterher.

Wird schlieftlich durch Erfolg der Demonstranten eine kritische Demonstrationsmasse er – reicht, wird die Teilnahme auch fur Aktivisten interessant, die den Demonstrationserfolg fur andere gegen den Staat gerichtete Ziele nutzen wollen. Es kommt so zur Vermischung der unterschiedlichen Bewegungen (Friedensbewegung, Naturschutzbewegung, Frauenbewe – gung, autonome Gruppen, …). Hinzu kommt das generelle Problem, dass sich Menschen in der Masse anders als Individuen verhalten. Durch geschickten Einfluss von Aktivisten mit ganz anderen Zielen konnen so friedlich demonstrierende Menschen missbraucht werden. Demonstrationen im demokratischen Sinn verlieren ihre gesellschaftliche Rechtfertigung, wenn die dazugehorigen demokratischen Spielregeln verletzt werden, antidemokratische Verhaltensweisen die Uberhand gewinnen.

Der derzeit stattfindende zweite Ausbau des Flughafens Rhein Main lauft ganz ohne De­monstrationen, obwohl dieser weitaus groftere Eingriffe fur die in der Umgebung lebenden Menschen als die Startbahn West mit sich bringt. Die Situation, die beim Bau der Startbahn West zu burgerkriegsahnlichen Zustanden fuhrte, ist offensichtlich durch die durchgefuhrte Mediation, die erkennbare Schaffung und Sicherung von Arbeitsplatzen, die Entmilitarisie – rung des Flugplatzes und vor allem durch das Angebot an Billigflugreisen fur breiteste Be – volkerungsschichten weitgehend entscharft, so dass die Bildung eines Demonstrationskollek – tivs nicht stattfand. Dies zeigt, dass aus den uberwiegend aus emotionalen Grunden stattfin – denden Demonstrationen keine objektive Bewertung (Signalwirkung) fur die Weiterentwick – lung des industriellen Prozesses abgeleitet werden kann. Fundamentale okologische Ziele zum Uberleben der Menschheit konnen nur gepaart mit klarem Verstand und Vernunft ohne mediate Uberhohungen und Verniedlichungen in einer moglichst gesamtheitlichen Betrach – tung und Bewertung der Dinge erreicht werden.

Updated: October 27, 2015 — 12:09 pm